Das „Historische Rathaus“ (heutige Adresse: Markt 25, 98646 Hildburghausen) ist das älteste erhaltene und nach wie vor höchste Gebäude am Marktplatz der südthüringischen Kreisstadt. Vielen Einwohnern und Stadtbesuchern ist noch der grüne Fassadenanstrich in Erinnerung, den es 1974 bekam und bis zu seiner jüngsten Sanierung behielt. Betritt man von der Unteren Marktstraße aus den Marktplatz, so fällt einem an dessen anderem Ende sofort das in heller Farbe erstrahlende Rathaus im Renaissancestil ins Auge. Der in seiner langen Geschichte mehrfach umgestaltete Bau ist der wichtigste steinerne Zeuge der Stadtentwicklung Hildburghausens. Grund genug, sich ihm etwas detaillierter zuzuwenden.
Der tiefe Fall des Türmers
Als in den Abendstunden des 14. Septembers 1572 ein fürchterliches Unwetter über Hildburghausen hereinbrach und Teile des Ortes verwüstete, wurde auch das an der Nordostecke des Marktplatzes stehende Rathaus stark in Mitleidenschaft gezogen. Der orkanartige Sturm fegte die oberste Etage und den Dachstuhl vom Gebäude. Der Türmer Melchior Sinder und seine Familie, deren winzige Wohnung sich hoch oben auf dem First des Rathauses hinter dem Turm befand, wurden dabei in die Tiefe geschleudert. Erstaunlicherweise fand das Ganze ein glückliches Ende, denn die Türmerfamilie überstand den gewaltigen Sturz unverletzt. Eine alte Chronik lässt uns – ganz im blumigen, etwas ausladenden Stil jener Zeit – an diesem kleinen Wunder teilhaben:
„Als aber nach ergangenem Gewitter die Nachbarn auf ihr Schreyen heraus gelauffen, und herbey geleuchtet, ist er, der Thürmer, auf einem herab gefallenen Balcken, etwann Manns-hoch, reitend gesessen, seine Hausfrau aber ist etwas hoch auf dem eingefallenen Holzwerck sitzend, und der Kinder eines in Armen haltend gefunden worden, mit kläglichen Wemmern und Schreyen fragend, wo ihr klein Kind hin kommen wäre? Es ist aber solches Kind, darnach sie gefraget, endlichen mit der Wiegen, darinnen es eingeschnürt gewesen, zu allerunterst unter dem verfallenen Holz gelegen, daß man mit grosser Mühe dazu räumen müssen, ehe mans herfür gebracht, das grössere Kind, ein Mägdlein, hat in dem Fallen geschryen: Ach Vater, wo kommen wir hin! Sie sind aber alle unbeschädigt davon gekommen, daß man auch das geringste Mahlzeichen oder Striemen an ihnen nicht spüren noch befinden können, ohne daß der Thürmer an einem Backen ein klein Ritzlein gehabt, das er weder gefühlet noch im geringsten geachtet.“ (zitiert nach: Johann Werner Krauß: Antiquitates et Memorabilia historiae Franconicae, darinnen insonderheit der Ursprung, Einrichtung und Merckwürdigkeiten der Fürstlichen Residentz-Stadt Hildburghausen … Verlegt von Johann Gottfried Hanisch, Hildburghausen 1753, S. 66)
Das ist die wohl bekannteste Episode aus der Geschichte des Hildburghäuser Rathauses, dessen Historie allerdings wesentlich weiter zurückreicht.
Vom „Steinhaus“ zum Rathaus
Da, wo sich heute das Rathaus erhebt, stand wahrscheinlich schon seit dem 13. Jahrhundert ein massiv gemauertes, mehrgeschossiges Gebäude, in dem die Burgmannen des jeweiligen Stadtherren (die Grafen von Wildberg, der Graf Albrecht von Nürnberg und die Grafen von Henneberg) ihr Quartier hatten. Vermutlich war es anfangs von einer Mauer und auch einem Graben umgeben. Ein Eintrag im ältesten Hildburghäuser Stadtbuch legt nahe, dass in diesem „Steinhaus“ bereits 1325 eine Ratsstube existierte, in der der – seit 1314 nachgewiesene – Rat tagte. Als 1388 eine Feuersbrunst in der Stadt wütete, zerstörten die Flammen auch das Holzwerk dieses Hauses. Die Ruine übereignete Landgraf Balthasar von Thüringen 1395 der Bürgerschaft. Diese errichtete hier auf einer Grundfläche von ca. 31 x 13,5 Metern ein dreietagiges Kauf- und Rathaus. In dessen Erdgeschoss gelangte man durch ein großes Portal an der Westseite in eine offene Halle mit Verkaufsständen der Bäcker und Metzger („brot und fleischbencke“). Deren Verlegung vom Markt hierher hatte die landgräfliche Schenkungsurkunde ausdrücklich gefordert. Die Halle war seinerzeit wohl auch der Standort der städtischen Waage. Im ersten Obergeschoss befanden sich die Amtsräume des Stadtrates, eine Ratsstube und ein Bürgersaal. Das darüber liegende Stockwerk diente vermutlich als Tuchboden. Schon 1511 wurde das Gebäude durch einen östlichen Anbau erweitert, in dem man Ratsstuben und das Ratsarchiv unterbrachte. Das hohe Dach nutzte man als Schüttboden für Getreide. Der schon vom Vorgängerbau stammende geräumige Gewölbekeller fungierte als Bier- und Weinlager.
Die Beschaffenheit des Gebäudes lässt auch Rückschlüsse auf die bereits Ende des 14. Jahrhunderts in der Stadt bestehenden Zünfte zu, allen voran die Zunft der Tuchmacher („wulleinweber“), deren Siegel auf einem Vertrag von 1395 zu finden ist, sowie die der Bäcker und Fleischer.
Die eingangs erwähnte Türmerwohnung hoch oben auf dem Dach existierte wohl schon damals. Wer sich nun fragt, welche Aufgaben einem Türmer in Hildburghausen eigentlich zufielen, so findet er darauf im Stadtbuch von 1550 eine Antwort, nämlich dass dieser „das horn czu wartten hatte, sich des nachts etliche mal horen lassen mußte, frue und abends dreimal blasen, die gewitter dreimal anblasen, auch mittag zwolff einmal blasen und die weinglock läuten“. Pflichtgemäß hatte sich der Türmer Melchior Sinder an jenem denkwürdigen stürmischen Abend des 14. Septembers 1572 in den erst kurz zuvor erbauten und direkt neben seiner Wohnung gelegenen Rathausturm begeben, um das „Gewitter anzublasen“, also die Stadtbewohner durch ein Warnsignal auf das drohende Unwetter einzustimmen. Allerdings befiel ihn dabei das panische Gefühl, dass der noch nicht ausgemauerte und unbedachte Turm gleich einstürzen würde, und er eilte in großer Sorge zu seiner Familie zurück. Ein Chronist lässt ihn noch sagen: „Ach liebe Frau, wir müssen alle sterben!“, als eine heftige Sturmböe das Rathaus traf, den oberen Teil abhob und krachend in die Tiefe beförderte. Der Rest der Geschichte ist bekannt.
Das Renaissancegebäude
Es sollten einige Jahre vergehen, bis das vorerst nur durch ein Notdach geschützte Rathaus wieder aufgebaut werden konnte. Die entsprechenden Arbeiten am Gebäude fanden 1594/95 statt. Es ist sogar überliefert, welche Bauleute das Rathaus wieder instand gesetzt und in seine bis heute weitgehend erhaltene Form gebracht haben: die Steinmetzen Jacob und Hans Brückner aus Heßberg und der Zimmermann Peter am Endt aus Hildburghausen.
Das wiederum dreistöckige Rathaus erhielt nun seine markante, nach Süden gerichtete Renaissancefassade mit dem hohen geschwungenen Giebel. Auf dem First des steilen Satteldaches platzierte man ein Glockentürmchen (später mit einer Ratsuhr versehen, die man 1868 gegen eine neue austauschte). Der sich in dieser luftigen Höhe unmittelbar anschließende schmale und flache Bau wurde bis 1919 vom Türmer und seiner Familie als Wohnung genutzt. Wie der Stadthistoriker Rudolf Armin Human uns wissen lässt, musste man (Stand Ende des 19. Jahrhunderts) beschwerliche 125 Stufen – „Asphalt-, Holz- und tief ausgetretene Sandsteintreppen“ – überwinden, um dorthin zu gelangen.
Der an der westlichen Seite des Gebäudes errichtete, also dem Marktplatz zugewandte vierstöckige Treppenturm mit seinen bullaugenähnlichen Fenstern in den beiden oberen Etagen trägt eine geschweifte Kuppel mit hohem Turmaufsatz. Die dort hängende Glocke, die Weinglocke, war im Volksmund als Spinnglöckchen bekannt. Es wird berichtet, dass sie erstmals 1496 zu hören war und von da an jeweils um sieben Uhr abends ertönte, was der Aufforderung an alle gleichkam, sich von den Weinstuben und Gasthäusern endlich auf den Heimweg zu begeben. Wer beim Achterläuten noch in den Schankstuben ertappt wurde, so ist überliefert, musste dafür fünf Groschen berappen. In späteren Zeiten erklang die Glocke in der Zeit zwischen Michaelis (29. September) und Lichtmess (2. Februar) um acht Uhr abends.Der Sage nach geschah dies aufgrund der Stiftung einer Gräfin, die sich einst in der Gegend verirrt hatte und durch das Abendgeläut den Weg in die Stadt zurückfand. Die Glocke war außerdem zu Gottesdiensten und Gemeindewahlen zu hören.
Einst befand sich am Rathaus auch der Pranger. Von diesem zeugt noch heute die sich um den Fuß des Turms windende steinerne Bank, über der ein Eisen angebracht wurde. Den rechts vom Turm gelegenen steinernen Portalbogen zieren farbige Innungszeichen. Darüber findet man eine zweiteilige Wappentafel: Links ist das Wappen der Herzöge von Sachsen-Hildburghausen dargestellt, rechts das von einem „Wilden Mann“ und einer „Wilden Frau“ gehaltene Stadtwappen mit den vier Löwen. Das Portal weist noch eine weitere Besonderheit auf: An seinem rechten Pfeiler wurde eine Elle aus Eisen angebracht, an der Kaufleute das in der Stadt gültige Maß nehmen bzw. überprüfen konnten, was wohl vor allem an Markttagen geschehen sein dürfte.
Im Wandel der Zeiten
Das Rathaus von Hildburghausen war und ist Sitz verschiedener Behörden und Einrichtungen. Insbesondere beherbergte es sechs Jahrhunderte lang, nämlich offiziell von 1395 bis 1995/97, die Stadtverwaltung. Und – wie wir wissen – gab es wohl auch schon im Vorgängerbau, dem „Steinhaus“, eine Ratsstube. 1683 - 1760 residierte hier zudem die Regierung des Herzogtums Sachsen-Hildburghausen. Aktenkundig mit Datum vom 2. Mai 1684 wurden der herzoglichen Regierung und der Kammer das erste Obergeschoss zum Ausbau und zur Nutzung überlassen; der Magistrat zog ins zweite Obergeschoss, auf den bisherigen Tuch- und Tanzboden, wo auch Bürgerversammlungen und Hochzeiten stattfanden. Nach Umzug der herzoglichen Behörden in das um 1760 errichtete Regierungsgebäude am Schlossberg nahm an deren Stelle das Stadt- und Kreisgericht im ersten Rathausobergeschoss Platz (bis 1879).
1776 traf ein Blitzschlag das Rathaus und richtete besonders am Turm große Schäden an, die ein Jahr später beseitigt wurden, wozu Schulden in Höhe von 2 900 Gulden aufgenommen werden mussten. Im Rahmen eines umfassenden Umbaus der Rathauses 1881 - 1883, der mit rund 7 000 Mark zu Buche schlug, wurden das Portal und die Arkaden im Erdgeschoss zugemauert. In dieses Untergeschoss zog eine Polizeiwache ein, die übrigens seit dieser Zeit durch ein Sprachrohr eine direkte Kommunikationsmöglichkeit zur Türmerwohnung auf dem Dach besaß (1896 Einrichtung einer telefonischen Verbindung). Die Stadtverwaltung nahm wieder im ersten Obergeschoss Platz, in der Etage darüber fand zunächst die Landwirtschaftsschule ihr Domizil, später beherbergte sie das Schiedsamt, das Stadtbauamt und Räume für Archivalien. Durch weitere Umbaumaßnahmen erhielt das Rathaus 1897 einen Sitzungssaal für den Gemeinderat. 1904 bezog das neu gegründete Stadtmuseum seine Ausstellungsräume im zweiten Stock des Rathauses (später zeitweilig andernorts untergebracht).
Wie die Stadt generell (abgesehen von der Zerstörung des als Kaserne genutzten ehemaligen Schlosses) blieb auch das Rathaus am Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend von Beschädigungen verschont. Nur bei einem Luftangriff Anfang April 1945 erlitt es leichte Schäden. Das 1954 wiedereröffnete Stadtmuseum war erneut im Rathaus untergebracht (seit 1993 befindet es sich im Baudenkmal „Alte Post“).
Im Zuge einer grundlegenden Sanierung und Restaurierung des Rathauses mit dem erklärten Ziel, das Erscheinungsbild der Renaissancezeit weitgehend wiederherzustellen, zog die Stadtverwaltung 1995/97 aus dem Gebäude aus und fand ihren neuen Sitz in einem als „Sachsenburg“ bekannten Gebäude in der Clara-Zetkin-Straße 3 (unterhalb der Christuskirche). Der mit einem Gesamtkostenaufwand von rund 10 Mio. DM betriebene Rathausumbau fand 2001 seinen Abschluss. Dabei wurde der historische Durchgang im Erdgeschoss wieder geöffnet, das Haus modernen Nutzungsansprüchen angepasst und auch die Türmerwohnung (im museal aufbereiteten Zustand von 1919) Besuchern zugänglich gemacht. Das bisherige Rats- und Verwaltungsgebäude wandelte sich zu einem multifunktionalen öffentlichen Bürgerhaus. Im nunmehr „Historischen Rathaus“ wurden die Stadt- und Kreisbibliothek „Joseph Meyer“ und die Touristinformation untergebracht, des Weiteren findet man hier den Trausaal und verschiedene Veranstaltungsräume.
In der schmalen Gasse auf der Westseite stoßen aufmerksame Stadtbesucher noch auf ein Kuriosum, den scheinbar das Rathaus bewachenden „Saurier von Hildburghausen“. Hierbei handelt es sich um eine lebensgroße Archosaurier-Bronzeplastik, die zum 2004 eingeweihten „Chirotherium-Monument“ gehört.
Autor: Thomas Handschel
Quellen:
-Chronik Hildburghausen: www.schildburghausen.de/chronik
(Texte: Hans-Jürgen Salier; zuletzt abgerufen am 4.6.2018)
Fotos: Thomas Handschel