Bomben auf Meiningen
Florian Russi
Erinnerungen an den 23. Februar 1945
Am 23. Februar 1945, so heißt es bei Wikipedia¹, flogen 49 Bomber der amerikanischen Luftwaffe über das südliche Thüringen, drehten dann in einer Kurve um und warfen aus 3500 Metern Höhe 582 Bomben auf die Stadt Meiningen. In drei Wellen, die insgesamt nur fünf Minuten dauerten, vernichteten sie 208 Menschenleben. Zu den Todesopfern kamen noch viele Verletzte hinzu. 251 Gebäude wurden völlig zerstört, weitere 440 beschädigt. In der alliierten Kriegsberichterstattung ist der Angriff als Erfolg gewertet. Ein Ziel war vor allem die Zerstörung von Verkehrsanlagen und Brücken.
Der Bombenangriff ist die erste feste Erinnerung in meinem Leben. Meine Mutter (damals 42), meine Schwester (6) und ich (3) wohnten zu dieser Zeit in Meiningen in der Bismarckstraße, die heute Neu-Ulmer-Straße heißt. Diese Straße wurde bei dem Angriff besonders stark getroffen. Es befand sich dort ein Gericht, in dem gerade Sitzungen abgehalten wurden. Das Bauwerk wurde gänzlich zerstört. Im Gebäude der nahe gelegenen Wirtschaftskammer kam meine Kusine Annemie ums Leben. Auch das Haus, in dem wir wohnten, es dient heute dem Superintendenten der Evangelischen Kirche als Dienst- und Wohnsitz, wurde teilweise zerstört.
Meine Mutter hatte bereits Erfahrungen mit Fliegerangriffen auf unsere Heimatstadt Saarlouis gemacht. Als die Alarmsirenen ertönten, rief sie durchs Haus, dass alle Bewohner schnell in den Keller laufen sollten. Das taten auch wir, meine Mutter drückte sich und uns Kinder eng an eine Außenwand des Kellers und zog ihren Rock über unsere Köpfe. Dann krachte es gewaltig und wir wurden verschüttet, aber nur leicht verletzt. Ein Bergungstrupp grub uns dann frei. Als wir auf die Straße traten, brannten dort überall Feuer. Zwischen diesen hindurch trugen alte Männer Bahren mit Toten. Darunter war auch ein vierzehnjähriges Mädchen aus unserem Haus. Sie hatte den Weg in den Keller nicht rechtzeitig geschafft und wurde nun, von einem blauen Tuch bedeckt, an uns vorbei zum Friedhof gebracht.
Für die Davongekommenen ging das Leben weiter. Das Erlebnis ist nie therapeutisch aufgearbeitet worden.
Zunächst wurden wir nach dem Angriff in einen Luftschutzkeller unter dem Zollamt geführt. Dort drängten sich geduldig und schicksalsergeben viele, vor allem ältere Menschen. Ein Herr neben mir lud mich zu Wort- und Fingerspielen ein. Ich fragte ihn, warum er an seiner einen Hand nur noch fünf Stummel hatte. Er erklärte mir, dass er mit dieser Hand eine Lokomotive zum Stehen gebracht hätte, und ich bewunderte ihn deswegen.
Meine Mutter, meine Schwester und ich bekamen eine Einzimmerwohnung in der Bahnhofstraße zugewiesen. Als uns am folgenden Morgen nicht wie gewohnt zwei BDM-Mädchen, sondern nur eine zum Kindergarten abholte, hörten wir die Nachricht, dass ihre Freundin zu den Bombenopfern gehörte. Meine Schwester und ich waren unsagbar traurig und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass der Tod etwas Endgültiges ist. Die Namen der Mädchen weiß ich nicht mehr, nur noch, dass sie beide sehr lieb zu uns gewesen waren.
Ein halbes Jahr zuvor hatten wir im Schutzbunker unter der „Donnerbrauerei" in Saarlouis schon einmal einen schweren Bombenangriff überlebt. Als unter den dort Versammelten zum Gebet aufgerufen worden war, soll ich artig die Hände gefaltet und gerufen haben: „Lieber Gott, lass das sein!" Der allmächtige Gott hatte sich aber von einem Zweieinhalbjährigen nichts sagen lassen wollen.
Thüringer Tagesezitung vom 01. März 1945
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¹ Artikel in wikipedia.de: Luftangriff auf Meiningen am 23. Februar 1945
Stadtwappen: gemeinfrei, Wikipedia
Foto: Kramer96 "Ehrenhain im Meininger Parkfriedhof für die Opfer der Luftangriffs auf Meiningen am 23. Februar 1945 - bis zu vier Namen, ganze Familien, enthält ein Stein. Einige Gedenksteine fehlen schon." Wikipedia
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