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Familie Stauffenberg: Hitlers Rache

Ursula Brekle

Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg war als Ehefrau von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der Schlüsselfigur im Widerstand gegen Hitler, von Anfang an in die Widerstandspläne ihres Mannes einbezogen. Sie bewies Mut und Stärke, obwohl sie nach der Ermordung ihres Mannes im Gefängnis und im KZ leben musste. Auch durch den Verlust von Angehö-rigen durchlebte sie eine leidvolle Zeit. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 drohte Himmler:
„Die Familie Stauffenberg wird ausgelöscht bis ins letzte Glied.“
Vor Ihnen liegt die spannungsreiche Geschichte, die beweist, dass es Himmler nicht gelungen ist, die Drohung wahrzumachen. Die jüngste Tochter von fünf Geschwistern Konstanze wurde noch während der mütterlichen Haft geboren. Sie berichtete vom 90. Geburtstag ihrer Mutter Nina, auf dem über 40 Nachkommen zusammengekommen waren. Die Nationalsozialisten haben trotz Hinrichtungen und perfider Sippenhaft nicht gewonnen.

Erinnerungen an Meiningen

Erinnerungen an Meiningen

Rotraut Dadder

Erlebnisse in den Wintermonaten 1944/45

„Erste Erinnerungen“ überschrieb die Autorin den folgenden Text in ihrem Tagebuch, das sie als Teenager führte. Sehr anschaulich beschrieb sie, was sie als 5- bzw. 6-jährige während ihrer Evakuierung in dem Residenzstädtchen Meiningen zum Ende des 2. Weltkriegs erlebt hat.

Rudolf und Rotraut im April 1943
Rudolf und Rotraut im April 1943

Die furchtbaren Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges beschatteten unsere ersten Kinderjahre. Unsere Familie war zersprengt wie alle. Mutter war mit Rudolf, meinem mir um zwei Jahre jüngeren Brüderchen und mir nach Thüringen geflohen, wo wir in der kleinen Stadt Meiningen bei Verwandten ein Unterkommen fanden. „Wo ist Papa?“ fragten wir immer wieder. Dann antwortete meine Mutter: „Im Feld“. „kommt er wieder?“ „Ja, wir beten doch immer und der liebe Gott gibt ihn uns eines Tages zurück.“ „Bringt er was zu Essen mit?“, fragte mein stets hungriger Bruder dann. Er stellte sich unter dem Wort „Feld“ einen Kartoffelacker vor.

Zwei kurze Monate verschonte der Krieg unsere neue Heimat. Meine Tante, die kein Verständnis für Kinder hatte, machte meiner Mutter wegen uns viel Kummer. Rudolf, der so klein wie er war, immer merkte, ob ihm jemand freundlich gesinnt war oder nicht, machte seinem Ärger Luft, indem er beim Essen mit dem Löffel in den Teller schlug, so dass die Suppe, für die er ohnehin nicht viel übrig hatte, in weitem Bogen auf den „kostbaren“ (wie meine Tante immer wieder betonte) Perserteppich spritzte. Durch lauter solch kleine Übeltaten wurde das Verhältnis von meiner Mutter zu ihrer Schwägerin immer gespannter.

Mama ging deshalb, so oft es immer nur ging, mit uns ins Freie, und ich erinnere mich an einen herrlichen Park, durch den die Werra floss. Eichhörnchen, braunrote und schwarze tummelten sich dort, sprangen von Baum zu Baum, und näherten sich manchmal zutraulich, so dass wir sie füttern konnten. Sonntags schleppte unsere arme Mutter uns mit zur Messe, weil keiner da war, der uns verwahren wollte. Ich vergesse nie, wie mein sangesfreudiger Bruder in einen ernsten Choral mit seiner kräftigen, weniger schönen als lauten Stimme ein „Hänschen-Klein“ schmetterte. Ich wurde ganz rot, aber Mutter, die schon Schlimmeres erlebt hatte, ließ sich dadurch in ihrer Andacht nicht stören. Sie kannte auch ihren Sprössling und wusste, dass er Zeder und Mordio schrie, wenn man ihn bei irgendeiner seiner Tätigkeiten störte und ihn aus dem Konzept brachte. Als wir beiden Kinder unserer Tante zu unerträglich wurden, steckte sie uns in einem Kindergarten. Aber auch hier hatte ich Grund, wie so oft später noch, über meinen Bruder zu erröten. Er war der einzige, der von der freundlichen Tante Schläge bekam. Manchmal liefen die beiden minutenlang um einen großen runden Tisch herum, und trotz seiner kurzen Beinchen war Rudolf flinker als sie. Fasste sie ihn dennoch, so bekam sie die Schläge doppelt von seiner kleinen Patschhand zurück. Es war ein Schauspiel, bei dem ich nie wusste, ob ich lachen oder weinen sollte. Die anderen Kinder, es waren auch viel ältere als wir dabei, getrauten sich nicht, der Tante beizustehen, da sie fast alle die scharfen Zähnchen und Nägel des kleinen Teufels schon gespürt hatten. Rudolf gewöhnte sich an nichts, was ihm beim ersten Einblick schon missfallen hatte. Trugen ältere Mädchen für uns unverständliche Gedichte der Hitlerjugend vor, so machte er Faxen und sagte unanständige Ausdrücke, die er, weiß der Teufel wo, aufgegabelt hatte. Wurde gesungen, so sang mein Bruder bestimmt etwas anderes als alle, meistens eigene Kompositionen. Ältere Mädchen, die ihn als jüngsten bemuttern wollten, machten böse Erfahrungen. Rudolf weinte selten, und wenn, dann nur aus lauter Wut, Ärger und Dickköpfigkeit. Und wenn ich bei ihm Tränen sah, dann weinte ich garantiert mit.

Auszug aus der Thüringer Tageszeitung vom 01.03.1945
Auszug aus der Thüringer Tageszeitung vom 01.03.1945

Dann, eines Tages, wir saßen gerade beim Mittagessen, ein Donnerschlag, dann atemlose Stille. Selbst Rudolf, der vorher mörderisch gebrüllt hatte, weil er seinen Pudding nicht zuerst essen durfte, verstummte. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte. Mutter sprang auf, nahm uns beide unter ihre Arme und sauste so die Treppen hinunter zum Keller. Ich sehe noch heute wie die bunten Fensterscheiben im Flur klären zersprangen. Wie dunkel war es auf einmal in dem schmalen langen Kellerraum. Ein furchtbarer, ohrenbetäubender Lärm erfolgte, die Wände zitterten, dicker Staub verschlug uns den Atem und ich glaubte zu ersticken. Alles schien sich zu drehen, zu zerspringen. Die Haushälterin schrie laut und wahnsinnig. Mutter war ganz, ganz still und wir drückten unsere Köpfe in ihren Schoß. Steine fielen von der Decke, es war so dunkel, die Luft erfüllt von heißem Staub. Wie lange dies gedauert hat, weiß ich nicht mehr. Aber wir in unserem Keller lebten alle, wie mochte es draußen aussehen? Draußen? Ein ganz kleiner Lichtschimmer, der in dieses Dunkel einfiel, verriet, dass es ein Draußen gab. Er bot uns den einzigen Ausweg aus diesem steinernen Gefängnis. Noch ein paar Steine wurden gelockert, und wir krochen ins Freie. Wie sah die Welt auf einmal aus! Das Haus in dem wir noch eben an nichts denkend saßen, war hinweggefegt. Und nicht nur unseres. Keine Straße mehr, tiefe große Bombeneinschlaglöcher, hoch aufgetürmter rauchender Schutt, zwischen den Trümmern ein Fetzen des „kostbaren“ Perserteppichs und bunte Klicker, die ich ein paar Tage vorher zum sechsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Und was bargen die Trümmer noch? – Die Tochter meiner Verwandten, die einzige, war eine unter den Toten. Eine unter so vielen. Und wir drei, Mutter, Rudolf und ich, wanderten da, wo einst die Straße war, weiter, immer weiter, um ein Dach zu finden. Das Kindergartengebäude stand noch, aber wozu ein Kindergarten, wenn es kaum Kinder mehr gab? Hier konnten wir bleiben, wenigstens so lange, bis wir etwas anderes hatten. Betten gab es hier nicht, nur viele kleine nackte Kinderstühlchen und einen großen runden Tisch.

Bald nahm uns eine gütige Frau auf, die selbst vier Kinder hatte und unheilbar an Krebs erkrankt war. Das Haus stand am Stadtrand. Als wieder einmal Alarm gegeben wurde, eilten wir ins Freie, und ich vergesse nicht, wie mich die große, blonde Frau, deren Gesicht von vielen Leiden gezeichnet war, unter ihren Mantel nahm, und sagte, so könne mir gar nichts geschehen. Ich war nach all den letzten schrecklichen Ereignissen überaus furchtsam geworden, aber ich glaubte ihr und fühlte mich unter ihrem weiten Mantel geborgen. Aber es ging vorüber, ohne dass etwas passiert ist.

Ehrenhain im Meininger Parkfriedhof für die Opfer der Luftangriffs auf Meiningen am 23. Februar 1945
Ehrenhain im Meininger Parkfriedhof für die Opfer der Luftangriffs auf Meiningen am 23. Februar 1945

Um die arme Frau, die selbst zu verlassen mit ihren vier Kindern im Leben stand, zu entlasten zogen wir, sobald uns eine neue Wohnung angeboten wurde, um in ein Haus in der Stadt, das gegenüber der Kaserne stand. Wir bekamen ein riesengroßes, kaltes Zimmer mit einer Lilatapete. Mutter half der Besitzerin, einer älteren alleinstehenden Dame, der sie nur schwer etwas recht machen konnte, in der Küche. Wir lebten dort, ich weiß nicht mehr wie lange, ziemlich ungestört, freuten uns, wenn ein Brief von Papa ankam und weinten mit Mama, wenn wir lange keine Nachricht mehr bekommen hatten. Dann auf einmal hieß es, dass die Amerikaner kommen. Lange Truppen marschierten an unserem Haus vorbei auf die Kaserne zu. Frau Wegel, die bis jetzt immer noch mit „Heil Hitler“ gegrüßt hatte, jubelte ihnen zu. Rudolf und ich duckten uns aus Furcht vor den bewaffneten Männern unter die Fensterbank und guckten ab und zu zwischen den Gardinen hervor. Dann auf einmal sah ich, wie ein Mann, der unter uns wohnte, mit ehrerbietiger Geste die Schranke zur Kaserne öffnete, als die Truppe dort ankam. Gewiss, die Amerikaner wären auch ohne seine Hilfe hinein gelangt, aber schon damals kam in mir ein wilder Hass gegen diesen Menschen hoch, der so wenig stolz hatte, der so feig war. Kaum war die Truppe im Kasernenhof angelangt, als sie wild auseinanderstob, um an sich zu reißen, was zu finden war. – Mama hatte uns eingeschärft, dass wir nichts von den Soldaten annehmen durften. Einmal hatte ich mich trotz Verbot alleine nach draußen gewagt, die Neugier war immer größer als die Furcht. Plötzlich klopfte etwas sanft gegen meinen Kopf. Es war der Kolben eines Gewehrs. Ich drehte mich erschrocken um und sah in das breit lachende Gesicht eines amerikanischen Soldaten. Als ich davonlaufen wollte, hielt er mich am Kleid fest und füllte meine vor Furcht zitternde Hand mit Süßigkeiten. Dann ging er lachend davon. Mir war, als trüge ich einen Schatz. „Ihr dürft nichts annehmen“, hörte ich Mutters Stimme. Aber dieser Schatz war mir zu kostbar, und ich eilte mit ihm und einem schlechten Gewissen nach oben. Als Mutter Rudolfs Jubelrufe hörte, ließ sie uns die Kostbarkeiten und freute sich mit uns.

Wir Kinder waren lange nicht mehr richtig ins Freie gekommen und eines Tages getrauten wir uns, wieder mit Mutter in den Park zu gehen. Aber wie sah es da aus! Überall auf den Wegen lagen die Eichhörnchen von den Gewehrkolben mutwilliger Soldaten erschlagen. Ich konnte mir nicht denken, dass „mein“ so freundlicher Amerikaner so etwas tun konnte. „Gelt, Mama der war‘s nicht?“ „Nein, der nicht.“

Wieder heulten die Sirenen und wir lebten drei Tage und Nächte lang in einem düster feuchten Kellergewölbe und warteten ab, was kommen sollte. Ich werde nie vergessen, wie ein Luftschutzkeller riecht. Es kam aber nichts mehr. Die Menschen waren vorsichtig geworden.

Bald danach zogen wir in eine herrschaftliche Villa, die am Rande der Stadt inmitten eines herrlichen Gartens lag. Es war ein Paradies für uns Kinder und es dauerte lange, bis wir Haus und Garten ganz ausgekundschaftet hatten. Immer wieder gab es etwas Neues zu entdecken. So wundervoll das Haus auch mit seinen Säulen, Engelchen, Erkern und Figuren in unseren Kinderaugen war, so lockte uns der weite Garten doch noch viel mehr mit seinen hohen Bäumen, den vielen Blumen, den mächtigen Rhabarberstauden, hinter welchen man sich so herrlich verstecken konnte. Oft standen wir beide, Rudolf und ich, am Gitter, das den Garten von der Straße abtrennte, und fragten einzelne vorbeikommende Soldaten: „Kennst du meinen Papa?“ Sie waren immer so freundlich zu uns, aber sie kannten ihn nicht.

*****

Bildnachweise

- Vorschaubild: Engelsfigur von Rotraut Gies, Foto: Rudolf Dadder

- Rudolf und Rotraut Dadder im April 1934, Foto im Privatbesitz

- Auszug aus der Thüringer Tageszeitung vom 01.03.1945 mit den Namen der Opfer des Bombenangriffs.

- Gedenkfriedhof in Meiningen. Ehrenhain im Meininger Parkfriedhof für die Opfer der Luftangriffs auf Meiningen am 23. Februar 1945.
Urheber; Kramer96, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 via wikimedia commons



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