Graf Waldemar von Thüringen hatte eine Tochter, die nach ihrer Mutter auf den Namen Gertrud getauft war, von allen aber Trude gerufen wurde. Trude war ein sehr unstetes Kind. Neugierde und ständige Unruhe trieben sie an, immer wieder Dinge zu tun, die in ihrer Umgebung als unschicklich empfunden wurden.
Als an ihrem 12. Geburtstag zu ihren Ehren auf dem väterlichen Schloss ein Fest mit vielen Gästen stattfand, begann sie plötzlich wie ein Pferd zu wiehern und zu schnauben und aufgeregt davonzulaufen. Erst zwei Tage danach wurde sie von väterlichen Wachmannschaften mehrere Meilen entfernt auf einem Baum sitzend gefunden. Kurz danach bekam ihr Vater Besuch von einem Edelmann, mit dem er wichtige Verhandlungen zu führen hatte. Trude lockte den Mann unter einem Vorwand in eines ihrer Gemächer. Dort schloss sie sich mit ihm ein und ließ ihn nicht eher gehen, bis er alle ihre Fragen über das Land, aus dem er kam, beantwortet hatte.
Eines Abends saß Graf Waldemar mit seiner Familie beisammen und suchte verärgert nach einem Schlüssel, der aus seinem Wams gefallen war.
»Er liegt unter dem Bett der Zofe Albertine, die du vergangene Nacht besucht hast«, wusste Trude Bescheid. Kein Versteck war vor ihr sicher, sie bemerkte immer als erste, wer mit wem eine Liebschaft oder einen Zwist begonnen hatte. Einmal fing sie mit dem Netz einen Kranich, der auf dem Rückflug von Afrika in Richtung Nordeuropa war.
»Du kommst von weit her«, sagte sie zu ihm. »Berichte mir, was du unterwegs erlebt hast. Wie sehen die Menschen in den südlichen Ländern aus? Sind sie wirklich schwarz? Welche Kleidung tragen sie? Was essen sie zu Mittag? «
Das Burgfräulein Liane wurde beauftragt, Trude das Häkeln und Sticken zu lehren. Doch Trude piesackte das arme Wesen so lange mit der Nadel, bis es entnervt seine Bemühungen aufgab. Als der Abt des Klosters Reinhardsbrunn aufs Schloss kam, um ihr die erste Beichte abzunehmen, zählte Trude folgsam die leichten oder schwereren Sünden auf, die sie in ihrem jungen Leben begangen hatte. Dann munterte sie den Abt auf, ihr nun seinerseits von seinen Verfehlungen zu berichten. An Trudes dreizehntem Geburtstag, erschien von weither ein fremder Graf mit seinem vierzehnjährigen Sohn Balduin auf Waldemars Schloss, um eine Heirat zwischen Trude und seinem Spross zu arrangieren. »Bist du auch kräftig genug für mich? « fragte
Trude, sprang auf Balduins Rücken, klammerte sich an ihm fest und trieb den jungen Mann an, sie im Laufschritt durch den Schlosspark zu tragen. Anschließend forderte sie ihn auf, ihr zu zeigen, wie er Pipi machte. Die Hochzeit kam nicht zustande. Balduins Geschlecht war vom Aussterben bedroht und sein Vater befürchtete, dass Trude nicht geeignet sei, gesunde Nachkommen zu gebären.
Wenig später kam ein Sänger zum Schloss und wurde mit Begeisterung eingelassen. Viele Abende trat er auf und brachte vor der gräflichen Familie und dem Hofgesinde anrührende Liebeslieder dar. Trude stellte ihn zur Rede und fragte:
»Wenn du wirklich eine solche Liebe empfindest, wie du sie in deinen Liedern kundtust, warum erklärst du sie nicht der von dir geliebten Frau, sondern einem dir unbekannten Publikum? « Der Sänger fasste sich schnell, kniete vor ihr nieder und versicherte mit feierlicher Gebärde:
»Ihr, mein Fräulein, seid es, für die ich mir diese Lieder ausgedacht. Ich gestehe euch meine tiefe Liebe. « Da lachte Trude: »Als du hier ankamst, hattest du die Lieder schon in deinem Gepäck. Man kann niemanden lieben, den man nicht kennt. Du bist verliebt in dich und deine Töne. Mich liebst du nicht, genauso wenig, wie ich dich liebe. « Neue Hoffnung schöpfte der Sänger, als Graf Waldemar ihn einlud, Trude im Lautenspiel zu unterrichten. Sie schien begabt. Bei schönem Wetter übten sie auch im Freien, und er durfte sie auf die Wiesen und Felder rund um das Schloss begleiten. Dann besang er Trudes Anmut und die Schönheit des Landes und glaubte sich seinem Ziel nahe, Trudes Herz doch noch zu erobern.
Irgendwann riss der Schnürsenkel an einem ihrer Schuhe. Da löste sie eine Saite von der Laute und band damit den Schuh wieder zu. Der empfindsame Sänger weinte daraufhin viele Tränen und stellte den Unterricht ein. Ein anderes Mal beobachtete sie einen Höfling ihres Vaters. Der schlug sich erst den Magen voll mit allerlei Gemüse und vier Sorten Fleisch. Dann warf er die Knochen hinter sich, rülpste, furzte und stellte sich an eine Wand, um Wasser abzulassen. Darauf verließ er das Schloss, entleerte im Park seinen Darm, traf sich dann mit einem Bauernmädchen und paarte sich mit ihr in einem Kornfeld. »Waren das nun für dich die gleichen Verrichtungen? « fragte ihn Trude. Lieber als mit den Höflingen ihres Vaters unterhielt sie sich mit den Häftlingen im Verlies des Schlosses. In unbemerkten Augenblicken schlich sie sich vor das Gitter des Kellerraumes, in dem die Gefangenen jämmerlich darben mussten. Sie wussten erheblich interessantere Geschichten zu erzählen, als die verweichlichten Hofbediensteten. Als einer der Gefangenen geköpft werden sollte, schritt Trude dazwischen und rief.
»Ich habe geträumt, dass ein Unglück über uns alle kommen würde, wenn der Mann hingerichtet werden sollte!« Verärgert ließ der abergläubische Graf Waldemar das Strafgericht abbrechen. Dankbar verbeugte sich der Verurteilte vor Trude. Dann wurde er wieder ins Verlies gebracht, und man ließ ihn dort elend verhungern.
Eines Tages kam ein Abgesandter des Klosters Niederzella aufs Schloss und forderte Graf Waldemar auf, sich an einem Kreuzzug ins Heilige Land zu beteiligen. Waldemar folgte diesem Ansinnen, war jedoch besorgt um seine Ehre und den guten Ruf seiner Ehefrau, seiner Buhlen und den seiner Tochter. Für alle ließ er Keuschheitsgürtel anfertigen, die sie bis zu seiner Rückkehr zu tragen hätten. Die Schlüssel dazu nahm er mit auf den Kreuzzug. Die Keuschheitsgürtel waren handwerkliche Meisterleistungen. Sie ließen die notwendigsten Verrichtungen, aber keine lustvollen geschlechtlichen Begegnungen zu.
Halb mit Stolz, halb in Verlegenheit führte Trude einem Stallburschen die ihr angelegte Fessel vor. »Da ist kein Durchkommen«, sagte sie. »Du kannst es gerne versuchen, aber es ist nicht möglich.« Der Bursche fühlte sich herausgefordert, und irgendwie hatte er schließlich dann doch Erfolg. Trude wurde schwanger und der Gürtel immer enger. Ihre Mutter beschimpfte sie als gewöhnliche Hure und weigerte sich, ihr beizustehen. Da nahm der Stallbursche Zange und Feile und befreite Trude und das Kind aus der quälenden Enge.
Als Graf Waldemar vom Kreuzzug zurückkehrte, floh der Stallbursche vom Schloss, und Trude musste den ungehemmten Zorn ihres Vaters über sich ergehen lassen. Der war nun überzeugt, dass sie von Dämonen besessen sei. Er rief nach Pater Angelus aus dem Kloster Reinhardsbrunn, einem erfahrenen Teufelsaustreiber. Der kam aufs Schloss, las in vielen Büchern, kasteite sich, sprach geheimnisvolle Formeln zu Trude und besprengte sie mit geweihtem Wasser.
Schließlich forderte er sie auf, mit ihm auf Wanderschaft zu gehen. Als die beiden auf einer Anhöhe nahe dem heutigen Forsthaus Neuhaus Rast machten, fragte Trude Pater Angelus: »Warum liest und studierst du den ganzen langen Tag in alten Büchern und bleibst dann doch weiterhin der, der du vorher warst? Weshalb kasteist du dich, kannst du dich nicht lieben? Aus welchem Grund kämpfst du gegen unsichtbare Teufel und stellst dich nicht im Turnier einem leibhaftigen Ritter? Bist du überhaupt ein Mann? «
Da wurde Pater Angelus zornig und wollte sie schlagen. Doch im selben Moment verschwand Trude vor seinen Augen und verwandelte sich in eine Quelle. Unentwegt sprudelte Wasser aus ihr hervor und bahnte sich seinen Weg. Schließlich quoll ein ganzer Fluss heran und die Leute nannten ihn »Unstete Trude«.
Daraus hat sich später der Name »Unstrut« herausgebildet. Immer noch fließt die Unstrut von Neugierde getrieben durch das Land. Dörfer und Städte versorgt sie mit Wasser. An ihren Hängen wächst ein edler Wein. Fische tummeln sich in ihr, Flößer haben sie befahren. An ihren Ufern weiden Schafe und Rinder, treffen sich Menschen, umarmen sich verliebte Paare. Über Saale und Elbe drängt sie voller Unruhe ins Meer. Dort trifft sie sich mit anderen Flüssen. Sie haben sich unendlich viel mitzuteilen.
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aus: Florian Russi: "Der Drachenprinz. Geschichten aus der Mitte Deutschlands", erschienen im Bertuch Verlag, 2004
Bildquellen:
Vorschaubild, Freiburg an der Unstrut, 1862, gemeinfrei
Reinhardsbrunn Castle, Friedrichrhoda, Thuringia, Germany, gemeinfrei
Lesendes Mädchen, Eduard Klieber (1803-1879), gemeinfrei
Unstrut-Quelle, Wikswat, Wikipedia, gemeinfrei