Häusertanz in Tiefengruben
Florian Russi
Miwan war ein sehr selbstbewusster und musikliebender Drache. Gern schlug er die Tschinellen, und zwar so laut, dass weit und breit alles erzitterte. Eines Tages stellte er sich an den Rand des Thüringer Waldes und veranstaltete ohrenbetäubende Geräusche.
Da kam der Hirsch Samson aus dem Wald gesprungen und wollte sich über den Lärm beschweren. Als er jedoch Miwan erblickte, sagte er: »Ach du bist es, der hier so wunderbare Töne erschallen lässt.« Samson wollte sich wieder in den Wald zurückziehen, doch hielt Miwan ihn zurück und fragte: »Was für ein Instrument kannst du spielen?« »Ich blase auf dem Horn«, antwortete der Hirsch. »Dann spiele mit in meinem kleinen Tanzorchester«, forderte der Drache ihn auf. Der Hirsch wagte nicht, sich zu widersetzen.
Dann trat der Eber Jolle aus dem Wald. »Welches Instrument kannst du spielen?«, fragte Miwan. »Ich schlage die Trommel«, antwortete Jolle und wurde sofort von Miwan engagiert. Als nächstes erschien das Mufflonschaf Geromil, und als der Drache fragte, welches Instrument es denn spielen könne, war seine Antwort: »Ich blase die Trompete, außerdem kann ich sehr schön singen.«
»Nein, das will ich für euch tun«, empfahl sich da der Zaunkönig Julice, der gerade angeflogen kam. Miwan zählte sich und seine Mitspieler. »Wir sind zu fünft«, meinte er, »also bilden wir ein Quintett.«
Häusertanz in Tiefengruben - Zeichnung von Dieter Stockmann (eingefärbt)
Gemeinsam zogen sie von Ort zu Ort, um zu schauen, ob irgendwo eine Tanzkapelle gebraucht würde. Als sie nach Tiefengruben kamen, wurde dort auf dem Dorfplatz gerade ein Fest vorbereitet. Die Bewohner hatten sich herausgeputzt und gingen mit beschwingten Schritten umher. »Lasst uns hier unsere Musik machen«, sagte Miwan zu seinen Mitspielern, und sie platzierten sich auf dem Dorfplatz.
Doch als Miwan die Tschinellen zusammenschlug, schrien die Tiefengrubener auf, hielten sich die Ohren zu und rannten entsetzt davon. »Sie scheinen nicht sehr musikalisch zu sein«, stellte Miwan fest, ließ sich aber nicht beirren. Er schlug die Tschinellen, Samson blies das Horn, Geromil die Trompete und Jolle schlug die Trommel. Abwechselnd sangen Geromil und Julice.
Da plötzlich, als der letzte Dorfbewohner außer Sichtweite war, begannen sich die Häuser zu bewegen und zu tanzen. Alle damals bekannten Tänze führten sie auf. Sie wurden nicht müde und konnten gar nicht genug davon bekommen. Artig forderten sie sich gegenseitig auf, verbeugten sich voreinander und wirbelten dann gemeinsam über die Ebene.
So ging es die ganze Nacht über, bis zum frühen Morgen. Menuett, Française oder gar Walzer waren noch nicht erfunden. Es waren deren Vorläufer, die sie spielten und tanzten. Die bereiteten ihnen ein ungeheures Vergnügen. Schließlich tanzten sie den »Tanz bis zum Tusch«. Immer, wenn Miwan die Tschinellen zusammenschlug, mussten die Tanzenden in der Stellung verharren, die sie gerade eingenommen hatten. Das war außerordentlich lustig, und manche Häuser nahmen dabei ungeplante Formen an.
Schließlich rief Miwan zur allgemeinen Enttäuschung in die Runde: »Nur noch ein letzter Tanz. Wir sind nämlich müde.« Da bildeten die Häuser zwei Schlangen. Eines reihte sich hinter das andere, und sie tanzten Reigen. Der Drache, der Hirsch, der Eber, das Mufflonschaf und der Zaunkönig spielten und sangen. Miwans Quintett stimmte eine einschmeichelnde Abschiedsmelodie an. Kurz darauf schlug Miwan die Tschinellen zum letzten Tusch gegeneinander. Da blieben die Häuser, wie sie gerade angeordnet waren, im Rund stehen.
Als am folgenden Tag die Bewohner sich wieder in ihr Dorf getrauten, standen ihre Häuser nicht wie bisher im Karree, sondern kreisförmig um den Dorfplatz herum. Die Tiefengrubener fanden das seltsam, doch mit der Zeit haben sie sich daran gewöhnt.*
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Text und Zeichnung aus: Florian Russi, Der Drachenprinz, Bertuch Verlag Weimar 2004,
ISBN: 978-3-937601-08-3
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* Siehe auch "Rundgang durch Tiefengruben"
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