Ludwig Bechstein erklärt in seinem Vorwort zum Deutschen Sagenbuch (veröffentlicht 1853), wie er bereits als Jugendlicher die Liebe zur Poesie und den Sagen fand. Vor allem der reiche Sagenschatz seiner Heimat Thüringen und dem Thüringer Wald hat ihn bereits früh beeindruckt:
"Auf mein eigenes Leben warf schon frühzeitig der Sage süßer wunderbarer Reiz seine Morgenstrahlen. Als Jüngling wanderte ich in einem sagenreichen Gau Thüringens umher und freute mich am Duft der schönen Wunderblume Poesie. Ilm und Gera, die Fluren von Arnstadt und Erfurt, der Drei Gleichen nachbarliche Burgen und sagendurchklungene Haine boten in Fülle ihren Stoff, doch lange nachher lernte ich der Sagen Geheimnis, ihren ganzen Zauber, erst recht erkennen, und lernte daran niemals aus. (...) In den Sagensammlungen der Länder Thüringen und Franken, welche zwar Beifall, aber bis jetzt noch nicht die längst vorbereiteten Fortsetzungen fanden, betrat ich den von den Brüdern Grimm vorgezeichneten Weg schlichter einfacher Darstellung und Wiedergabe, sowohl des Chronikstoffes als jenes dem Volksmund selbst entnommene. Ich bin den Sagen viel und lange nachgegangen und gezogen; im Thüringerwalde kenne ich so ziemlich jeden Weg und Steg;" (Deutsches Sagenbuch von Ludwig Bechstein. Mit sechzehn Holzschnitten nach Zeichnungen von A. Erhardt. Verlag zu Meersburg und Leipzig 1930, S. 8)
Nummer 725 der 1000 von Bechstein gesammelten und zusammengetragenen Sagen erklärt den Namen und Ursprung der Stadt Schleusingen.
Anna Hein
Von dem Ursprung der Stadt Schleusingen wird eine Sage erzählt, die sich an das Wahrzeichen dieser Stadt, eine Sirene oder Wassernixe, knüpft, welches Wahrzeichen auf einem Schild am Rathaus noch zu sehen ist. Ein reicher Graf jagte in den Waldungen dieser Gegend, lange vorher, ehe die Stadt vorhanden war, und verfolgte unablässig ein weißes Reh, ohne dieses doch erjagen zu können. Darüber brach die Nacht herein, und der Graf, welcher von seinen Begleitern ganz abgekommen war, mußte die Ruhe auf bloßer Erde des Waldbodens suchen. Schon hatte er sich am Fuß eines felsigen Berges niedergelegt, als er einen ungewöhnlichen Glanz gewahrte und eine funkelnde Grotte erblickte, in welcher sich ein kristallenes Becken befand; drei silberne Quellen ergossen sich hinein, und auf den lichten Wellen wiegte sich eine reizende Wasserfei, die um ihre Stirne ein blitzendes Band trug, darauf die Zeichen SLVS zu lesen waren. Diese Fei erhob einen süßen und bezaubernden Gesang, und als sie geendet, winkte sie den Grafen zu sich hin und vertraute ihm, daß jenes weiße Reh, welches er verfolgte, ihre Tochter sei, die ein böser Zauberer verwandelt, der oben auf dem Berge über dem Quellbrunnen in einem gewaltigen und festen Turme wohne. Diesen Zauberer wolle sie in Schlaf singen, und der Graf solle ihn überwältigen und töten. Das werde ihm durch die Kraft der Worte gelingen, die ihr Stirnband zierten, welche bedeuteten: Sie (nämlich die Tochter der Wasserfei) Liebe Vnd Siege! Das alles geschah nun auch wirklich, und als der böse Zauberer getötet war, mußte der Graf das weiße Reh dreimal mit der Flut des Kristallborns benetzen, dessen drei Quellen die drei vereinten Bergwasser, die Schleuse, die Erle und die Nahe, bedeuteten, worauf das Reh sich in ein wunderschönes Fräulein verwandelte. Mit diesem vermählte sich der Graf und nannte sich und sein Geschlecht von der Brunstätt, gründete das Schloß und die Stadt Schleusingen, deren Name aus den drei geheimnisvollen Buchstaben SLVS sich bildete, und welche zum Wahrzeichen die Sirene in ihrem Stadtwappen beibehielt. Die Waserfei soll noch im Schloßbrunnen, dem klarsten und besten der Stadt, wohnen, das Geschlecht derer von Brunstätt aber artete aus und soll von den Grafen von Henneberg aus dortiger Gegend vertrieben worden sein.
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Text- und Bildquelle: Deutsches Sagenbuch von Ludwig Bechstein. Mit sechzehn Holzschnitten nach Zeichnungen von A. Erhardt. Verlag zu Meersburg und Leipzig 1930, S. 478 und 538.